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Gemeinsam den Lehrermangel überwinden

Lehrermangel

Auf die Zukunft der Bildung fokussieren, nicht auf den Mangel in der Gegenwart

Wie wäre es, wenn wir den Fokus nicht auf die fehlenden Ressourcen „Lehrermangel“ richten, sondern erst einmal das verwenden, was wir haben? Das ist viel mehr, als es anfänglich scheint. Lasst uns die vorhandenen Ressourcen aktivieren und aus dem Problem ein Meisterstück machen. Egal wie teuer, egal wie anstrengend das jetzt wird. Jugend ist Zukunft. Eine Gesellschaft, die versäumt, bestmögliche Bildung zu ermöglichen, sägt an dem Ast, auf dem sie sitzt. Wir können die Kinder nicht länger unter Tatenlosigkeit leiden lassen. Wahrscheinlich geht das nicht, ohne über den einen oder anderen Schatten zu springen. Hören wir auf, nach Verantwortlichen zu suchen. Tun wir endlich etwas. Lasst uns gemeinsam zeigen: Wir kriegen das hin!

Die Situation an deutschen Schulen, dem Land der Dichter und Denker: Lehrkräfte fehlen, Unterricht fällt aus, Stunden werden ersatzlos gestrichen. Fächer werden in ihrem Umfang reduziert oder fallen weg. Förderkurse werden eingestellt, Grundschüler schon am Vormittag nach Hause geschickt, weil kein Lehrer mehr für sie da ist. Der Anteil an Teilzeit ist bei Lehrern so groß wie nirgends anders, der Krankenstand erschreckend hoch. Bisher wird hauptsächlich gejammert.

Lösungsvor­schläge fehlen. Stell dir vor, dein Boot hat ein Leck, und du machst nichts anderes, als zu analysieren, woher das Loch kommt und wo das Wasser wohl in ein paar Stunden steht. Irrsinn. Jeder vernünftige Mensch würde in so einer Situation das Hemd ausziehen und damit erst mal das Loch stopfen. Und was machen wir? Wir analysieren und warten, dass die Lösung vom Himmel fällt. Geht‘s noch? Also: Bevor wir uns anschauen, wie man aus der Situation rauskommen kann, fassen wir kurz zusammen, wo wir eigentlich stehen. Und um es gleich zu sagen: Nicht alle werden die hier genannten Vorschläge teilen. Aber es wird einige geben, die nicht länger abwarten, sondern anpacken. Die diese Ideen kreativ weiterführen und „Living Examples“ werden. Die alles dransetzen, dass Bildung in diesem Land wieder großgeschrieben wird. – Und die werden Schule machen und andere nach sich ziehen.

Eine ganze Schülergeneration wird benachteiligt

Jedes Jahr verlässt fast ein Fünftel der Schülerinnen und Schüler die Schule, ohne ausreichend lesen und rechnen zu können. In den vergangenen zehn Jahren sind die Leistungen immer weiter gesunken. Jugend ist Zukunft. Aber wie sieht diese Zukunft wohl aus, wenn jeder fünfte 15-jährige mit dem Lösen alltäglicher Probleme überfordert ist? Wenn wir es nicht mehr schaffen, jungen Menschen in ihrer Schulzeit die Minimalausstattung an Wissen und Kompetenzen mitzugeben?

Das Schlagwort „Lehrermangel“ erstickt scheinbar alle Aktivitäten im Keim. Experten-Analysen verstärken das. „Apokalypse-Erschöpfung“ nennt der norwegische Forscher Per Espen Stoknes das Phänomen, wenn die meisten Menschen nicht mehr glauben, eine Situation noch retten zu können. Bereits vor Corona hatten wir uns an große Probleme gewöhnt. Aber den Kopf in den Sand stecken ist keine Lösung.

Schulleitungen sind offen für Veränderung

Zumindest in Umfragen zeigt sich ein Silberstreif am Horizont. Jede zweite Schulleitung (52 %) blickt der Zukunft ihrer Schule optimistisch entgegen. Fast alle (93 %) wollen mehr Alltagskompetenzen vermitteln (Studie des FiBS Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie). Schule der Zukunft muss anders gedacht werden, sagen sie. Und stellen dabei sogar den althergebrachten Fächerkanon infrage (82 %). Aus Sicht der Schulleitungen braucht das umfassende Veränderungen, mehr Autonomie und Gestaltungs­frei­heit. Also Lehrkräfte, die Mut haben, Neues zu wagen und Schulleitungen, die ihre Lehrkräfte ermutigen, Neues auszuprobieren – und die nicht auf eine Lösung von außen warten. Wie können wir das leisten?

Der „Lehrermangel“ beträgt tatsächlich nur 5,7 Prozent

702.000 Lehrkräfte arbeiten hauptberuflich an den allgemeinbildenden Schulen in Deutschland. Laut Schätzung des Deutschen Lehrerverbands fehlen 40.000 Lehrkräfte. Insgesamt arbeiten knapp 40 % in Teilzeit, laut statistischem Landesamt in Baden-Württemberg dort sogar 56,6 %.  Frauen viel häufiger, als Männer. Tendenz steigend. Zum Vergleich: In anderen Branchen liegt der Teilzeitanteil bei 24 %. Genaue Zahlen für den Teilzeitanteil von Lehrkräften sind im föderalen Zuständigkeitschaos schwer zu ermitteln. Aber egal wie, lässt sich hieraus bereits ein erster Lösungsansatz ableiten:

40.000 fehlenden Lehrer bedeuten 5,7 % Unterversorgung. Rechnerisch bedeutet das: Würde jeder Lehrer 5,7 % mehr arbeiten, gäbe es keinen Lehrermangel. Umgerechnet auf eine Vierzigstundenwoche wären das etwas mehr als 2 Stunden mehr pro Woche, also eine halbe Stunde mehr am Tag. Das soll keine Forderung sein, aber die Verhältnismäßigkeit deutlich machen. Die große Zahl 40.000 fehlender Lehrer blockiert den Blick aufs Wesentliche. An 5,7 % traut man sich schon eher ran.

Jede Krise hat ein produktives Element

Die Dramaturgie einer Krise hat immer auch ein produktives Element. Vielleicht ist die Bildungspolitik jetzt bereit, Tabuzonen zu betreten. Zum Beispiel den Föderalismus auf den Prüfstand zu stellen, das Lehrerarbeitszeitmodell und die ausufernde Teilzeitarbeit. Schulleitungen fordern mehr Autonomie und Gestaltungsfreiheit, die Politik wünscht sich mehr Selbstverantwortungen der Schulen. Jetzt scheint die Zeit gekommen, wo diese gegenseitigen Erwartungshaltungen mit Leben erfüllt werden können! Und wenn hierbei gleichzeitig ans Licht kommt, dass einige Lehrkräfte nur deshalb in Teilzeit arbeiten, weil sie Angst haben auszubrennen, dann gehört dieses Thema jetzt auch auf den Tisch. Grundsätzlich bezogen auf die Fürsorgepflicht des Staates für seine Mitarbeiter und als wichtiges Führungsthema für Schulleitungen.

Den Fokus auf die Ressourcen richten, die schon da sind

Es ist eine menschliche Eigenart, bei Problemen erst einmal die fehlenden Ressourcen anzuführen. Schule muss sich verändern. Das ist gesellschaftlicher Konsens, den Schulleitung, Lehrkräfte, Eltern und Verbände teilen. Aber scheinbar kommt niemand so richtig ins Handeln. Der Fokus liegt auf dem Lehrermangel und der Erschöpfung nach Corona, statt auf Lösungen, die zu Veränderungen führen. Wie wäre es, den Fokus erst einmal auf das zu richten, was bereits da ist? Das ist viel mehr, als es anfänglich scheint. Da sind mehr eigene Ressourcen, als aktuell bewusst sind. – Finde sie! Mach dich auf den Weg! Nur mit dieser Haltung können wir uns dem Problem rauskommen. Jeder Schritt zählt und scheint er noch so klein!

Das Potenzial: 280.800 ausgebildete, praxiserfahrene Lehrer

Eine Teilzeitquote von 40 % bedeutet, dass bei 40 % ausgebildeten, praxiserfahrenen Lehrern mehr Potenzial vorhanden ist, als in der Schule ankommt. Wie wäre es, dieses Potenzial zu nutzen statt nur auf Nachwuchs und Quereinsteiger zu setzen? Das heißt nicht, dort untätig zu bleiben. Aber wie wäre es, wenn wir dieses riesige brachliegende Potenzial in Bewegung bringen?

Leider beschränken sich alle Expertenanalysen nur darauf hoch zu rechnen, wie sich der „Lehrermangel“ entwickeln wird. Sinnvoller wäre, einmal verlässliche Zahlen auf dem Tisch zu haben. Aber das kann das föderale System scheinbar nicht liefern. Daraus ergibt sich die erste Hausaufgabe: Exakte Erfassung des Ist-Zustandes und vollkommene Transparenz. Bisher müssen wir uns beim Lehrermangel auf Stichproben und Schätzungen des Deutschen Lehrerverbandes verlassen. Die Zahlen müssen auf den Tisch. Wie viel sind in Teilzeit? Was ist das durchschnittliche Vollzeitäquivalent der Teilzeitkräfte? Wie vielen Vollzeit-Lehrerstellen entspricht das also?

Setzt man in einer überschlägigen Rechnung Teilzeit mit halbtags gleich, zeigt sich, welches Potenzial hier schlummert: Wenn von den rund 280.800 Lehrern die nur Teilzeit arbeiten, 80.000 in Vollzeit arbeiten würden, wäre das Problem gelöst. Das wären dann 28 % der Teilzeitlehrer, die Vollzeit arbeiten müssten. Also ungefähr jeder vierte. – Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Wenn sich jeder vierte Teilzeit-Lehrer oder -Lehrerin entschließen würde, in Vollzeit zu arbeiten, wären die 40.000 fehlenden Lehrerstellen beseitigt.

Den Gedanken hatte auch der baden-württembergische Regierungschef Kretschmann. Dort sind 56,6 % in Teilzeit. „Bitte überlegen Sie sich doch, ob Sie nicht im kommenden Schuljahr eine, zwei oder vielleicht sogar drei zusätzliche Stunden unterrichten können“, schrieb er den Lehrkräften seines Landes. „Wir wissen, dass wir Ihnen mit unserem Aufruf einiges abverlangen“, schrieb er weiter. Aber das Land würde in der aktuellen Krise die Unterstützung der Lehrer brauchen. – Und holte sich eine Abfuhr.

Der Vorsitzende des Philologenverbandes Baden-Württemberg reagierte fassungslos und fand es eine „Ungeheuerlichkeit“ nach zweieinhalb Jahren Corona völlig erschöpfte Lehrkräfte zu bitten für die Landesregierung die „Kastanien aus dem Feuer zu holen“. Lehrkräfte hätten sich oft aus familiären Gründen ganz bewusst für die Teilzeit entschieden und dadurch auch anteilig auf Gehalt verzichtet. Das ist verständlich. Seine Mitglieder zu schützen ist nobel, stellt aber einen wichtigen Grundwert der Gesellschaft infrage, nach dem Gemeinwohl vor Eigennutz geht. Bildung ist eine wichtige Grundlage für die Prosperität der Gesellschaft und damit Gemeinwohlinteresse. Darf man das mit Partikular­interessen aushebeln?

Niemand stellt in Abrede, dass einige Lehrkräfte aus familiären Gründen ganz bewusst Teilzeit arbeiten und vielleicht kaum anders können. Andererseits könnte die hohe Teilzeitquote auch ein Indikator für eine zu hohe Unterrichtsverpflichtung sein. Ein Hebel liegt in dem zu komplizierten und kleinteiligen Arbeitszeitmodel, das eher einengt, statt Innovation und Kreativität zu fördern.

Kretschmann machte jedenfalls einen Rückzieher, nachdem ihm vorgerechnet wurde, dass die Anzahl der Deputatstunden nicht in dem Maß steigen würde, wie angenommen. Hier werden also zwei weitere Probleme „benutzt“, um das Gemeinwohl­interesse Unterrichtsversorgung nicht anzugehen. Die Erschöpfung der Lehrkräfte und das umständlich handhabbare Lehrerarbeitszeitmodell. Ja, das sind zwei weitere Baustellen. Und ja, es wird Arbeit machen, an diesen zuarbeiten. Aber diese Probleme als status quo zu zementieren, führt nicht zu Lösungen, sondern zur völligen Stagnation. Probleme deshalb nicht zu lösen, weil weitere Probleme vorhanden sind, kann niemals eine positive Veränderung nach sich ziehen.

Wer etwas will, findet einen Weg. Wer etwas nicht will, findet Gründe

Lehrer, die von Teilzeit auf Vollzeit umstellen, würden zwar mehr arbeiten, dafür aber weniger Stress haben. Denn der kommt vom Lehrermangel, so die Aussage vieler Lehrer, der Verbände und Gewerkschaften. Interesse am Gemeinwohl setzt Solidarität voraus. Es wäre ein Akt der Solidarität, die bereits Vollzeit arbeitenden Kollegen zu unterstützen. Das würde den Stress im Kollegium (der zu einem sehr großen Teil auf den Lehrermangel zurückgeführt wird) deutlich reduzieren. Damit könnte sich die Angst derer, die nur 70 % arbeiten, um nicht auszubrennen, auflösen. Und es wäre ein Akt der Solidarität mit den Schülerinnen und Schülern, denn der Komfort, als Lehrkraft in Teilzeit arbeiten zu können, wird schließlich auf deren Rücken ausgetragen. Abgesehen von dem Akt der Solidarität mit den Eltern, die sich eine gute Unterrichtsversorgung wünschen, und den Arbeitgebern, die unter dem Fachkräftemangel und dem schlechten Bildungsstandard in unserem Land leiden. Für Teilzeit-Lehrer könnte das ein Grund sein, den eigenen Teilzeit-Anteil noch einmal zu überdenken.

Es wundert nicht, wenn hier die Frage nach der Pflicht von Beamten gestellt wird. Ist es nicht ihre Aufgabe die Interessen des Staates wahrzunehmen? Fürs Gemeinwohl da zu sein? Idealerweise braucht das keine Aufstockung von Pflichtstunden, keine Zwangsverpflichtung. Vielmehr sollte das eigentlich ein Akt des Selbstverständnisses sein, seine Aufgabe ordentlich zu erfüllen. Aber das braucht mehr als einen Bittbrief.

Mehr Unterstützungs- und Belohnungssysteme für Lehrkräfte

40.000 fehlende Lehrerstellen bedeutet, Gehälter für 40.000 Lehrerstellen mussten bisher nicht gezahlt werden. Also Geld müsste da sein. Wie wäre es, einer Lehrkraft, die von Teilzeit in Vollzeit wechselt, ein durchschnitt­liches Lehrergehalt (5000 €) als Prämie zu zahlen? Und einer Schule, die ihren Teilzeitanteil auf 30 % senkt, 20.000 € als Prämie zur freien Verfügung zu zahlen? Eine Schule, die 20 % schafft, vielleicht 50.000 €? Ein Anreiz neben dem moralischen Appell. Das könnte die nächsten 2 bis 5 Jahre überbrücken helfen.

Auch mit Blick auf die Erschöpfung braucht es jetzt schnell Unterstützungssysteme. Freie Coaches haben wir in Deutschland genug, auch Yoga- und Entspannungslehrer. Wie wäre es mit einem Gutscheinsystem für Lehrkräfte, um der Erschöpfung entgegenzuwirken und die Resilienz zu fördern?

Begleitfrage: Sind die Gehälter der 40.000 unbesetzten Lehrerstellen eigentlich bereits budgetiert? Wenn nicht, müsste das schnellstens geschehen. Wenn ja, dann ist das der Topf, aus dem solche Unterstützungs­systeme finanziert werden könnten. Und nicht nur das: Vielleicht auch eine Kampagne für ein besseres Ansehen der Lehrer in der Gesellschaft, als Motivation, Lehramt zu studieren und um Quereinsteiger besser zu qualifizieren. Das braucht Denken „out of the Box“, Mut zu unkonventionellem Vorgehen und so etwas mal durchzuboxen. Daniel Merbitz, Vorstandsmitglied der GEW, fordert langfristig „mehr Fachkräfte, die nicht-pädagogische Arbeiten übernehmen, um Lehrkräfte von administrativen Aufgaben oder IT-Betreuung zu entlasten.“ So könnte das vorhandene Lehrkräfte-Potential für mehr Unterrichtsstunden nutzen. Auch dafür kann das bisher nicht abgerufene Budget der 40.000 unbesetzten Lehrerstellen verwendet werden.

Die Digitalisierung zielführend einzusetzen, könnte helfen

Das heißt die Möglichkeiten digitaler Innovationen zur Entlastung der Lehrkräfte einsetzen. Auch die Forderung nach multiprofessionellen Teams braucht ein Umdenken. Sozialpädagogik, Schulpsychologie, Ganztagspartner, Administration, Sozialarbeit, Berufs-Coaches, Schulentwicklungsbegleitung, Zeitmanagement, Projektmanagement, administrative Ergänzung des Schulsekretariats – diese Unterstützung wird in der Öffentlichkeit noch zu häufig als „nice to have“ angesehen. In der Schul-Realität kann Bildungserfolg aber nur gelingen, wenn all diese Gruppen mit dem klassischen Lehrpersonal zusammenarbeiten. Das braucht allerdings andere Kommunikationsstrukturen als bisher und ein neues Verständnis von Zusammenarbeit und Teamgeist an der Schule, kann aber enorme Entlastung für alle Beteiligten ermöglichen – und damit gleichzeitig für mehr Bildungsgerechtigkeit sorgen. Denn da hakt es:

Das System steht sich selbst im Weg und braucht eine Zäsur

Wie festgefahren das System ist, zeigt ein Leserkommentar aus DIE ZEIT, in der ein Lehrer schrieb: „Ich bin voll ausgebildeter Gymnasiallehrer mit Staatsexamen und allem, was dazugehört. Ich unterrichte zurzeit als angestellter Lehrer an einer Schule, wo in einem meiner Fächer gerade für das gesamte Schuljahr Unterricht gekürzt wurde, weil die Kollegen fehlen. Trotzdem gibt es keine Planstelle und ich werde wie ein Puzzle aus X verschiedenen Töpfen bezahlt… Es ist also nicht nur Lehrermangel sondern auch Stellenmangel. Und ich merke aus meinem eigenen Umfeld, was das auch für Studierende signalisiert. Die haben jetzt schon Angst vor der Stellensuche…“

Der Kommentar einer Sonderpädagogin zum Weltlehrertag auf LinkedIn bringt es auf den Punkt: Wir brauchen mehr Pragmatismus. Sie schreibt: „Ich würde gerne leistungsbezogen bezahlt werden und geklärte Arbeitsbedingungen vorfinden: ausgestattete Räume (anstatt diese selber zu renovieren und zu möblieren), Arbeitsmaterialien, die der Staat und nicht ich selber bezahle, geklärte, zum Teil vorgegebene (Kern-) Arbeitszeiten und Zeitpläne für Besprechungszeiten, um ein Arbeiten in multiprofessionellen Teams überhaupt zu ermöglichen, Supervision zur Entwicklung sinnvoller Arbeitsprozesse und einer systematischen Fortbildungsplanung. Ein sehr weites Feld. Engagement alleine reicht nicht mehr. Das wäre für mich inzwischen „Dank“ und Wertschätzung genug: Arbeitsbedingungen, in denen effektiv gearbeitet werden kann, in denen sich Lehrkräfte und Schüler wohlfühlen können. Ein Zahnarzt läuft auch nicht jedes Mal in den Keller, wenn er bohren muss oder fragt, wo zufällig ein Sessel steht: Alles liegt griffbereit und meistens gibt es eine zertifizierte Assistenz. Wir Sonderpädagogen verfügen in der Inklusion größtenteils nicht mal über Räume…

Die Bildungs-Ungerechtigkeit verschärft sich, weil sie den Schwachen Unterstützung nimmt und die Privilegierten in die Privatschulen treibt. Es geht hier nicht nur um die Frage, was Kinder und Jugendliche einer Gesellschaft wert sind, sondern auch, wie diese Gesellschaft mit ihrer eigenen Zukunft umgeht und was jeder einzelne bereit ist, dafür zu tun.

Was jetzt zu tun ist

Forderungen an die Politik

Erstens: Schulische Bildung ist ein verfassungsmäßig zugesichertes Grundrecht. Dafür muss die Bundesbildungs­ministerin die Verantwortung übernehmen, trotz Föderalismus und Kooperationsverbot.

Zweitens: Der Beruf des Lehrers braucht eine gesell­schaft­liche Aufwertung, helfen könnte eine kluge Imagekampagne. Zurzeit beklagen Universitäten abneh­mende Studierendenzahlen. Und zu viele wechseln in andere Jobs. In Zukunft sollte niemand mehr aus Verlegenheit Lehrkraft werden. Der Arbeitsplatz Schule muss so modern sein, dass er die Besten an­zieht. WLAN überall wäre ein Anfang, aber damit darf die Digitalisierung nicht aufhören. Alle Fragen rund ums Lehrerwerden und Lehrersein müssen politisch zusammengedacht werden – in einem starken Bildungsministerium. Gleichzeitig braucht es eine Flexibilisierung des Lehrerberufs. Wenn man zum Beispiel nach zehn Jahren keine Lust mehr hat, würde man im normalen Arbeitsmarkt einfach die Stelle bzw. den Beruf wechseln. Dass ist im Lehrerberuf weder normal noch einfach möglich. In der Schulrealität werden diese Lehrkräfte aufgrund von schwindender Motivation, steigender Belastung und Frustration schlechter, fallen häufiger aus und reduzieren (wenn sie können) ihre Arbeitszeit. Eine Öffnung der Strukturen könnte Lehrkräften helfen aus dem Beruf aus- und zu einem späteren Zeitpunkt wieder einzusteigen. Gleichzeitig würden sie wertvolle Erfahrungen aus anderen Berufsfeldern mitbringen, die dem Ziel „in der Schule fürs Leben zu lernen“ zugutekommen.

Drittens: Es müssen Fakten auf den Tisch. Lehrer, Eltern und Kinder haben das Recht auf Transparenz. Zu Recht wird hier keine langwierige Gremienarbeit erwartet, sondern eine schnelle Eingreiftruppe.

  • Ermittlung vom Ist-Zustand: Wie viele Lehrer haben wir? Wie viel sind in Teilzeit und mit welchem Vollzeitäquivalent? Wie viele fehlen tatsächlich? Für welche Fächer, in welchen Bundesländern? Wie viel Stunden sind bereits ausgefallen und welche Fächer sind in ihrer Existenz gefährdet?

  • Transparenz zu den offenen Stellen: Sind genügend offene Stellen vorhanden? Wie ist die Verteilung für die Bundesländer? Wie die Ausrichtung auf den Fächerkanon?

  • Einen jährlichen Transparenz-Bericht über den Ist-Zustand, den erwarteten Bedarf und den Stand bei der Lehreraus- und Weiterbildung. Offenlegung des bisher ungenutzten Datenpotenzials, das durchaus vorhanden ist, wie kleine Anfragen zum Beispiel in der Hamburger Bürgerschaft oder in anderen Bundesländern zeigen.

  • Offenlegen was budgetiert ist und was nicht: Sind die angenommen 40.000 fehlende Lehrerstellen bereits budgetiert? Seit wann? Also wie viel nicht abgerufenes Budget hat sich angesammelt?

  • Lehrerausbildung: Wie hoch ist die Abbrecherquote im Lehramtsstudium? Gründe? Wie hoch die Durchfallquote im Studium, wie hoch bei der Referendariats-Prüfung? Gründe? Wie viele fertig ausgebildete Lehrkräfte gehen nicht an die Schule, sondern in andere Berufe? Gründe? Wie groß ist das Delta zwischen Lehramtsstudenten und zukünftigem Bedarf?

  • Quereinsteiger: Gibt es bereits bundesweit gültige Zulas­sungsstandards für Seiten- und Quereinsteiger? Wenn nicht, dann müssten die formuliert werden.

  • Arbeitszeitmodell: Das Lehrer-Arbeitszeitmodell bedarf dringend einer Reform. Klare Regelung von Unterrichtszeit, Anwesenheitspflicht bei Konferenzen und klare Regelung für den Jahresurlaub, wie in jeder anderen Branche auch. Nur das ermöglicht, aus dem Schlamassel rauszukommen. Dabei wird dann auch deutlich, wo Lehrer administrative Zusatzaufgaben erledigen, die gegebenenfalls durch Dienstleister oder Mitarbeiter mit anderen (eventuell dafür sogar besser geeigneten) Ausbildungen aufgefangen werden können. Keine einfache Aufgabe, aber wenn das liegen bleibt, wird die Unklarheit nie enden. Kein Unternehmen könnte sich das leisten.

  • Budgets für nichtpädagogisches Personal und Dienstleister zur Verfügung stellen, damit sich Lehrkräfte auf die pädagogischen Aufgaben konzentrieren können. Auch braucht es zusätzliche Budgets und attraktive Stellenausschreibungen für IT-Admins.

Was können Schulleitungen tun?

Bestandsaufnahme an der eigenen Schule und diese Zahlen der Politik zügig zur Verfügung stellen. Ermitteln, welche administrativen Aufgaben durch andere als Lehrkräfte erledigt werden könnten. Das Elternnetzwerk hierfür mobilisieren und einige Aufgaben zur Entlastung der Lehrkräfte erst einmal durch ehrenamtliche Elternarbeit abdecken. Engagierte Eltern finden, die das organisieren helfen. Gegebenenfalls benötigtes Budget ermitteln und mit aller Kraft durchsetzen. Wenn nötig im Schulterschluss mit anderen Schulleitungen des Ortes. Oft wird nur der, der laut wird, gehört.

Positive Aufbruchstimmung an der Schule verbreiten, dem Kollegium viel Wertschätzung entgegenbringen und ermutigen, mehr an das Wohl der Schüler zu denken, als an die eigenen Probleme. Nach Angeboten zur Resilienz-Förderung im nahen Umfeld der Schule suchen und diese Lehrkräften empfehlen. Für entsprechenden Spirit „YES WE CAN“ an der Schule sorgen. Dazu zählt auch kreativ zu werden, um Lehrkräften vernünftig ausgestattete Arbeitsplätze an der Schule anzubieten, damit sie zwischen den Unterrichtzeiten an der Schule in Ruhe konzentriert arbeiten können.

Was kann die Schulaufsicht tun?

Das Selbstverständnis ändern: Nicht beaufsichtigen, sondern unterstützen, helfen. Schon eine Änderung der Bezeichnung (Schulbegleiter, Schulcoach, Qualitätssicherung) würde das Selbstverständnis ändern. Die Schulleitung bei oben genannten Aufgaben unterstützen. Für die nächsten 2 bis 3 Jahre vielleicht den Zeitaufwand für die Schulaufsicht reduzieren und die gesparte Zeit an einer Schule als Unterrichtsstunden einsetzen. Für optimalen und schulübergreifenden Best-Practice Transfer sorgen.

Was kann die Lehrerweiterbildung tun?

Stunden von Lehrkräften, die für die Organisation von Lehrerweiterbildungen abgestellt sind, bei Dozenten und Teilnehmern, die für (verzichtbare) Weiterbil­dungen blockiert sind, dem Unterricht zugutekommen lassen, also unterrichten statt weiterbilden – was in der aktuellen Situation einfach wichtiger ist.

Was können Lehrkräfte tun?

Wer in Teilzeit arbeitet, kann die Gründe noch mal überdenken und (vielleicht für eine limitierte Zeit) von Teilzeit in Vollzeit wechseln. Wenigstens aber den Teilzeitanteil reduzieren. Also die Situation deeskalieren helfen. Sich wieder vor Augen führen, warum man eigentlich Lehrer geworden ist. Weiterbildungen im Augenblick auf das wirklich Notwendigste beschränken, um keine Unterrichtszeit zu nehmen. Der Schulleitung tatkräftig bei der Neuausrichtung der Schule zu mehr Autonomie und Gestaltungsfreiraum helfen. Vor allem im persönlichen Kontakt die Elternschaft mobilisieren und ein positives Schulklima herstellen. Das ist die Grundlage, damit Veränderung gelingen kann.

Was können Eltern tun?

Nicht gegen die Lehrkräfte arbeiten, sondern mit ihnen und am gleichen Ziel: Für mehr Bildungsgerechtigkeit und gute Schulbildung. Wer erfolgreiche im Management ist, in Personalentwicklung, Organisationsberatung, wer Coach ist oder in IT-Berufen arbeitet, kann der Schule ehrenamtlich verlässlich zur Seite stehen.

Wir haben schon einmal gezeigt, was möglich ist. Schon einmal sind wir zusammengerückt, das war vor etwa 16 Jahren bei der Fußball-WM und der Kampagne „Du bist Deutschland“. Auf einmal hatten wir alle Deutschland-Wimpel auf den Autos und ein großes Gefühl von Zusammengehörigkeit und „wir schaffen das“. Genau das ist das Gefühl, was wir wieder brauchen. Lasst uns gemeinsam zeigen: Wir kriegen das hin!

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Bernd Gebert

Der Autor ist Gründer & geschäftsführender Vorstand von Das macht Schule

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