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Eine Schule bereitet ihre Schüler auf das Leben im 21. Jahrhundert vor – vorbildlich

Matthias Isecke-Vogelsang

Die taz schreib über ihn: „Er ist bekennender Punk, trägt knallbunte Haare und leitet eine Schule in Lübeck – und zwar vorbildlich wie Kollegen, Schüler und Kultusministerium sagen.“ – Jetzt wurde seine Schule als erste Schule Deutschlands für ihre vorbildliche Teilhabe-Kultur von »Das macht Schule« ausgezeichnet. Auf der Auszeichnungsfeier ging er in seiner Rede darauf ein, warum die Beteiligung von Schulangehörigen keine unlösbare Aufgabe ist.

Das schrille Aussehen des verheirateten und dreifachen Familienvaters Matthias Isecke-Vogelsang machte ihn deutschlandweit bekannt. Dieser Mann hat Erfolg. Als er die Gotthard-Kühl-Schule übernahm, galt sie als Problem-Schule: Hoher Anteil an Schülerinnen und Schülern aus Migrantenfamilien oder finanzschwachen Elternhäusern, Mobbing, Gewalt, rückgängige Schülerzahlen. Das alles hat Isecke-Vogelsang zusammen mit seinen Lehrer-Kollegium in den Griff bekommen. Und wie? Mit einer gehörigen Portion Punk. Er machte die Werte der Subkultur zu festen Säulen im Schulalltag und ermutigte sein Kollegium Praxisprojekte gegen Ausgrenzung, Rassismus und Mobbing anzuschieben. 

Jeder soll sich frei entfalten können und in seinen individuellen Fähigkeiten gefördert werden. Dann fühlt er sich auch wertgeschätzt.

Gerade der Umgang und die Integration von Flüchtlingskindern liegen ihm am Herzen. Und, wie wichtig es ist, dass jeder Schüler, egal wo er herkommt, von seinen Mitschülern akzeptiert wird. Dass sich jeder frei entfalten kann und in seinen individuellen Fähigkeiten gefördert wird. Denn dann fühle er sich auch wertgeschätzt. Wenn Isecke-Vogelsang so etwas sagt, wirkt er sehr ruhig und bedacht. Seine pädagogische Expertise gepaart mit dem schrillen Aussehen ergeben eine unverwechselbare Mischung, die ankommt. – Hier seine Rede anlässlich der Auszeichnungsfeier:

Beteiligung – keine unlösbare Aufgabe

„Ich freue mich sehr über die Einladung zu der heutigen Auszeichnungsfeier. Das hat mindestens zwei Gründe:

  • Als ehemaliger Schulleiter [Matthias Isecke-Vogelsang ging mit den Sommerferien in Pension, Anm. d. Red.] hängt mein Herz natürlich noch an allem, was mit der Gotthard-Kühl-Schule in Verbindung steht. Nebenbemerkung: Außerdem bin ich, wie die meisten wissen, unwahrscheinlich neugierig. Daher verfolge ich alle Entwicklungen, von denen ich selbstverständlich detailliert höre, mit riesigem Interesse.
  • Mit „Das macht Schule“ verbindet uns inzwischen schon eine längere, vertrauensvolle Zusammenarbeit. Ich erinnere mich an die schöne Auszeichnungsveranstaltung zur Einweihung der von Schülerinnen und Schülern gestalteten Chill-Lounge, die sehnsüchtigst gebraucht und erwartet wurde. Ich erinnere mich an die erfolgreiche Fortbildungsveranstaltung „Abenteuer Integration“, die wir gemeinsam für Kolleginnen und Kollegen aller Schularten planten, organisierten und durchführten. Und daneben gab es häufige informelle, hilfreiche Gespräche, insbesondere zwischen Ihnen und meiner Kollegin Simone Becker.

Dass unsere Schule als erste in Deutschland für das wertschätzende Miteinander von Ihnen ausgezeichnet wird, ist etwas Besonderes und erfüllt mich mit Freude und Stolz. Andererseits kann auch unser Partner mit Freude und Stolz auf eine 10jährige kräftig-unterstützende Tätigkeit zurückblicken. Fast 1800 Projekte wurden mit einem hohen Aufwand gefördert und auf den Weg gebracht. Dass wir in diesen Zahlen auch vertreten sind, ist ebenfalls ein Grund zum Feiern.

Ohne Beteiligte und Mitwirkende bleibt jede gute Idee eben als Idee liegen, wird nicht in der Realität umgesetzt, kann nicht fortentwickelt werden.

„Beteiligung von Schulangehörigen – keine unlösbare Aufgabe“. So heißt die Überschrift meiner Rede. Auf den Internetseiten von „Das macht Schule“ wird dagegen mehrfach behauptet: „Auf den Lehrer kommt es an“. Die enorm wichtige Rolle von Lehrkräften soll an dieser Stelle überhaupt nicht bezweifelt werden. Wissenschaftliche Befunde haben das in den letzten Jahren eindrucksvoll bestätigt. Und dennoch: Sie allein können Schulentwicklung nicht einleiten, ohne Beteiligte und Mitwirkende bleibt jede gute Idee eben als Idee liegen, wird nicht in der Realität umgesetzt, kann nicht fortentwickelt werden.

Eigentlich könnte ich es mir einfach machen. Nehmen wir das Streichholzbeispiel. Ein einzelnes Streichholz lässt sich leicht knicken. Bei einigen wenigen mehr brauche ich schon eine größere Kraftanstrengung. Sind es viele Streichhölzer, gelingt das nicht mehr. Das Beispiel zeigt: Gemeinsam wird und ist man stark.

Streichhplz

Deshalb gehen Texte und Beispiele auf den Internetseiten von „Das macht Schule“ sinnvollerweise auch weiter. Deshalb wird dort recht anschaulich beschrieben: Wenn nachhaltiges und erfolgreiches Lernen für die Welt von morgen erfolgen soll, sind Teilhaben dürfen, Erfahrungen sammeln und Skills trainieren notwendig. Und zwar immer gemeinsam mit anderen, im Austausch mit Gruppen und Teams. Hierzu stellt „Das macht Schule“ in motivierender,  Mut machender Form Praxisprojekte vor, gibt Anregungen, steht mit Hilfen und Tipps für die Umsetzung  zur Verfügung. Pestalozzi fordert ein Lehren und Lernen mit Kopf, Herz und Hand. Die von Ihnen geförderten Beispiele aus unterschiedlichsten Schulen zeigen, dass diese in einer ganz anderen Zeit formulierten Vorstellungen auch 2018 immer noch aktuell sind.

Trotz Inklusionsanteil über Landesdurchschnitt wird erfolgreich gearbeitet. Das zeigen u.a. die Ergebnisse der Abschlussprüfungen.

Nach ihrem Selbstverständnis versteht sich die Gotthard-Kühl-Schule als eine Schule für alle – zum Leben und Lernen. In einem nicht einfachen Schuleinzugsbereich werden hier Kinder und Jugendliche mit fast 50 Herkunftssprachen unterrichtet. Der Inklusionsanteil liegt über dem Landesdurchschnitt. Trotz dieser nicht leichten Ausgangsbedingungen wird erfolgreich gearbeitet. Dies zeigen u. a. die Ergebnisse der Abschlussprüfungen.

Warum sind Schulen wie die Gotthard-Kühl-Schule gerade heute wichtiger denn je? Eine jüngst erschienene Fachzeitschrift für Pädagogik beschäftigt sich mit dem Thema „Integration“. In dem einleitenden Editorial heißt es:

„Weltweit sind gegenwärtig fast 70 Mio. Menschen auf der Flucht vor (Bürger-)Krieg, Gewalt und Terror, vor Hunger und Elend. Die Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen, ist in den Ländern Europas sehr unterschiedlich. Europaweit und auch in Deutschland haben die Bemühungen um Integration der Geflüchteten vielfach zu hasserfüllten Gegenbewegungen geführt.

Ohne Schule, ohne Erziehung und Bildung, ohne aufgeklärte Sozialisation der jungen Generation in unsere Gesellschaft geht es nicht!

Islamistisch motivierte Anschläge heizen Abwehr und Feindseligkeit gegenüber Muslimen an. Sie bestärken rechtspopulistische und rechtsextremistische Gruppierungen und Parteien und motivieren Gewalttaten des rechtsextremistischen Milieus. Die Polarisierung wird schärfer und bezieht auch rechtskonservative Parteien ein, die sich an sprachlicher Verrohung und Maßlosigkeit beteiligen. „(Es) ist die zentrale Frage, wie die Integration dieser Menschen gelingen kann. Schule kann sie nicht allein beantworten! Aber ohne Schule, ohne Erziehung und Bildung, ohne aufgeklärte Sozialisation der jungen Generation in unsere Gesellschaft geht es nicht!“ (aus: Lernende Schule, 21. Jg., Heft 83/2018, S.1). Ich füge hinzu: 

Alles das, was eine Schule im Zusammenhang mit Integration als pädagogisches und didaktisches Know-how erwirbt, kommt langfristig allen Schülern zugute. Alle profitieren hiervon!

Einen positiven, zukunftsorientierten Gegenentwurf lebt die Gotthard-Kühl-Schule. Im Schulprogramm heißt es: „Unsere Schule ist weltoffen. Kinder und Jugendliche, aber auch Lehrkräfte aus vielen Nationen verbringen hier einen großen Teil ihrer Zeit und sammeln vielfältige Erfahrungen. Deshalb sind wir in besonderer Weise aufgefordert, Verständigung unter den Kulturen zu fördern und zu bewahren. Es gilt anzuerkennen, dass die eine Welt Heimat für uns alle ist.“

Ein Schlüssel des Erfolgs dieser pädagogischen Bemühungen ist die Beteiligungskultur.

Hierfür wurden vorhin in den Laudationes verschiedene Vorhaben genannt: Konfliktlotsen, Schulsanitätsdienst oder Lesepatinnen/Lesepaten. Wichtig scheint für mich der basisorientierte Ansatz. Hierzu möchte ich nur zwei Beispiele nennen. Klassenräte gibt es in allen Jahrgangsstufen, auch in der Grundschule. Hier werden demokratische Strukturen und Verhaltensweisen trainiert und praktiziert, wobei die Kinder und Jugendlichen  konkret erfahren, wie wichtig beispielsweise gegenseitiges Zuhören oder das Ringen um tragfähige, ausgleichende Lösungen ist. Aus den Klassenräten gibt es immer wieder Impulse für SV-Sitzungen, ebenso verlaufen in umgekehrter Richtung Kommunikationswege. Als zweites Beispiel soll angedeutet sein, dass es unzählige Einzelgespräche zwischen Lehrkräften, Schülerinnen/Schülern und Eltern gibt. Auch hierbei werden lösungsorientierte Verfahren immer wieder  durchgeführt, zum Teil mit einem erheblichen zeitlichen Aufwand. Äußerst hilfreich und aktiv ist in diesem Zusammenhang die Schulsozialarbeit. Unserem Schulsozialarbeiter, Dirk Reyscher, der schwerpunktmäßig im Gemeinschaftsschulteil eingesetzt ist,  gebührt für sein sehr hohes Engagement, für seine Ideen, ein großer Dank.

Wenn es sich also um eine Schule zum Leben und Lernen handelt, muss die gesamte Schulgemeinschaft dieses Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln. Dies schließt Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler sowie Eltern ein. Und auch sonstige Beschäftigte der Schule sollten mit diesem Identifikationsvirus infiziert sein. Ich nenne beispielsweise Schulbegleiterinnen und Schulbegleiter, Sekretärinnen oder Hausmeister. Somit entstehen bei täglichen Herausforderungen und Abläufen Vitalität und Kreativität. Dadurch werden neue Aufgaben und Zielbestimmungen angenommen, denn: Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit. Die Schule mit allen ihren Angehörigen hat in bemerkenswerter Weise eine Reihe von Handlungsweisen und Tools erprobt und  erlernt, wie unterschiedlichsten Bedürfnissen Raum gegeben werden kann, wie „Experten“ sich und ihre Erfahrungshintergründe konstruktiv einbringen können. In der Rückschau sind dies gelungene Prozesse, die aber erst  in längeren Zeiträumen und auch mit dem Eingeständnis von Fehlern erworben wurden.  

Schüler fragen: Machen wir das nächstes Jahr wieder?

Auf der Homepage der Schule ist die erste „Woche der Toleranz“ in sehr konkreter Weise dokumentiert. Das Organisationsteam schrieb in seinem kommentierenden Text: „Die Vielfalt der Projektergebnisse war überwältigend. Thematisiert (und für die Öffentlichkeit) ausgestellt wurden unter anderem Arbeiten zu Rassismus, Vorurteilen, Klassengemeinschaft fördern, Menschenrechten, sexualisierter Gewalt, Cybermobbing u. v. m.“ Spontan kam von Schülerinnen und Schülern die Frage: „Machen wir das nächstes Jahr wieder?´“

Lassen Sie mich einen letzten Gesichtspunkt ansprechen. „Das macht Schule“ verweist nach meiner Meinung sehr zu Recht darauf, dass bei Partizipation, bei Beteiligung nicht nur das kopfmäßige Lernen gefordert ist und gefördert wird.

Wenn das Klima stimmt, wenn Menschlichkeit zählt, werden Gefühle angesprochen. Positive Emotionen bewirken, dass Verantwortlichkeit für das eigene Handeln deutlich wird.

Vor einigen Tagen habe ich für ein Internet-Diskussionsforum einen Beitrag geschrieben. Die Fragestellung hieß: Wie bereitet eigentlich Schule Kinder und Jugendliche auf Lebenswirklichkeiten in 15 Jahren vor, von denen wir heute zum Teil noch gar nicht wissen, wie sie aussehen werden? Unter anderem schrieb ich: „Die Gesamtpersönlichkeit von Schülerinnen und Schülern muss im Fokus stehen. Zu lange haben wir uns im Gefolge von PISA-Ergebnissen darauf beschränkt, in vermeintlichen Hauptfächern messbare Ergebnisse zu diskutieren. Kinder, die bewegungsunerfahren sind oder nicht schwimmen können, müssen breitere Lernangebote erhalten als nur Methoden des Textknackens zu trainieren. Kognitive Bildung allein schützt nicht vor gesellschaftlichen Fehlentwicklungen – das zeigen historische Beispiele oder asiatische Erziehungsstile, die die Entfaltung von Individualität vernachlässigen. Deshalb muss es vor allem darum gehen, dass Kinder und Jugendliche Überzeugungen, Werte und Normen erfahren, die sie selbständig überprüfen und sich zu eigen machen können.“

Dies erst macht Demokratie-Lernen erfolgreich, was sich die Landesregierung Schleswig-Holsteins als großes Aktionsprogramm für die Schulen in diesem Jahr vorgenommen hat. Anders ausgedrückt: Lernen ist erst dann wirksam, wenn Emotionen im Spiel sind. Viele Anwesende wissen, dass ich gern den französischen Autor Antoine de St. Exupéry  zitiere. Im „Kleinen Prinz“ schreibt er:

Prinz

„Dann ging der Prinz zum Fuchs zurück. „Lebe wohl“, sagte er … „Lebe wohl“, sagte der Fuchs. „Hier ist mein Geheimnis. Es ist sehr einfach: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ „Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“, wiederholte der kleine Prinz, um es sich einzuprägen.“

Diese Zielsetzung unterstützt „Das macht Schule“ nachhaltig. Die Projekte bewirken, dass Schülerinnen und Schüler über ihre Zeit in der Schule hinaus Einstellungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten erwerben, mit denen sie ihr Leben zukünftig verantwortungsvoll und selbstbestimmt gestalten können. Dafür danke ich den Initiatoren.

 

Schulen gewährleisten die Umsetzung, immer wieder neu, immer wieder anders. Heute ist es die Gotthard-Kühl-Schule Lübeck. Als inzwischen Außenstehender und Kommentator gratuliere ich zu der außergewöhnlichen und  ganz besonderen Auszeichnung.“

 

Lübeck, 25. Oktober 2018

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